Sarah Biendarra: Ich bin jetzt seit über neun Jahren bei comspace im HR-Bereich tätig. Als ich anfing, waren wir nur halb so groß und arbeiteten noch in anderen Büroräumen. Seinerzeit war „Familienfreundlichkeit“ das große Thema, auf das wir mit sehr flexiblen zeitlichen und räumlichen Arbeitsmodellen, Bezuschussung von Kindergartenbeiträgen und Sonderurlaub für Einschulung reagiert haben. Davon habe ich als Mutter einer kleinen Tochter auch sehr stark profitieren können. 2014 wurden wir von der Stadt Bielefeld als familienfreundliches Unternehmen ausgezeichnet. Aktuell sind wir im Bewerbungsprozess für eine Re-Zertifizierung dieser Auszeichnung. Eine offizielle Entscheidung gibt es allerdings erst im April. Aber im Laufe der Zeit wurde uns – auch durch die Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen – bewusst, dass der Begriff „Familie“ deutlich mehr beinhaltet als die Versorgung kleiner Kinder.
Sarah Biendarra: Wenn wir zunächst bei „Familie“ bleiben, steht für einige Mitarbeitende irgendwann an, Angehörige zu unterstützen oder auch zu pflegen. Ich habe schon von mehreren Kolleginnen und Kollegen gehört, dass sie sehr froh sind, dass es bei uns die Möglichkeit gibt, auch recht kurzfristig Stunden zu reduzieren. Denn manchmal tritt ein Pflegefall doch sehr plötzlich ein und ist sehr belastend. Es nimmt eine Menge Druck raus, wenn wir gemeinsam mit den Mitarbeitenden eine Lösung finden, um alles unter einen Hut zu bringen. Wir haben individuelle Teilzeitmodelle zwischen 20 und 36 Wochenstunden. Dabei ist es auch möglich, dass jemand zum Beispiel jeden zweiten Freitag freinimmt. Die Regelungen werden immer mit den jeweiligen Teams abgestimmt. Wenn es für das Team passt, steht einer Reduktion oder auch Aufstockung von Stunden – das geht tatsächlich in beide Richtungen – nichts mehr im Weg. 46 Prozent unserer Kolleg*innen arbeiten in Teilzeit – übrigens sind auch viele männliche Kollegen darunter. Es gibt zudem viele Gründe für Flexibilität, die nichts mit „Familie“ zu tun und dennoch ihre Berechtigung haben, wie zum Beispiel Hobby, Ehrenamt oder eine Nebenbeschäftigung. Auch Workation ist bei uns ein Thema.
Sarah Biendarra: Unser bisher außergewöhnlichster „Fall“ ist unser Kollege Niklas, der durch Europa tourt und aus dem Camper heraus als Webentwickler arbeitet. Für dieses Workation-Jahr hat er seine Arbeitszeit von 40 auf 20 Stunden reduziert. Wenn er wiederkommt, schauen wir, ob und wie er seine Arbeitszeit wieder erhöhen will. Um sich unabhängig vom öffentlichen WLAN zu machen, hat er sich einen Industrierouter zugelegt und eine Antenne auf dem Dach seines Bullis installiert. Niklas schreibt in einem Blog regelmäßig über seine Erlebnisse und lässt so Familie, Freunde und Kollegen an seiner Reise teilhaben. Wer mal lesen möchte, wo unser Kollege gerade ist, findet seine Geschichten auf https://crafterlicious.de/workation-arbeiten-im-camper/.
Sarah Biendarra: Das ist richtig. Work from Anywhere als mobiles Arbeiten bietet zusätzlich Lebensphasenflexibilität. Wir haben das auch schon vor der Corona-Pandemie angeboten, aber diese Art des Arbeitens wurde nur von wenigen Mitarbeitenden genutzt. Durch den plötzlichen Remote-first-Modus haben wir eine steile Lernkurve in Sachen hybrider Zusammenarbeit hingelegt. Unser Recruiting-Radius wurde größer und mit ihm auch die Anforderungen an Remote Onboarding und Remote Retention. Gleichzeitig gewinnen alle Kolleg*innen Flexibilität im Großen und Kleinen bei der täglichen Tagesgestaltung bis hin zur Workation. Etwa 80 Prozent unserer Kolleg*innen arbeiten überwiegend oder dauerhaft außerhalb des Bielefelder Büros. Work from Anywhere ist für uns eine wichtige Komponente bei der Gestaltung lebensphasenorientierter Arbeitsbedingungen.
Sarah Biendarra: Führung remote funktioniert bei uns auch sehr gut. Eva Stock, unsere Chief People & Marketing Officer ist zugleich Mitglied der Geschäftsleitung und arbeitet hauptsächlich von Berlin aus. Alle zwei bis drei Monate verbringt sie längere Aufenthalte in Rheinland-Pfalz, um dort intensiver Zeit mit ihren fast 80-jährigen Eltern zu verbringen.
Sarah Biendarra: Die Flexibilität, die wir bieten, leistet einen erheblichen Beitrag, dass sich Mitarbeitende bei uns wohlfühlen. Unsere durchschnittliche Beschäftigungsdauer liegt bei sechs Jahren, was für unsere Branche und Unternehmensgröße ein ziemlich guter Wert ist. Das Leben ist nicht statisch. Jemand, der gerade frisch von der Uni kommt, hat andere Bedürfnisse als jemand, der gerade eine Familie gründet oder über 20 Jahre Berufs- und noch mehr Lebenserfahrung verfügt. Für uns bedeutet das, dass wir den Kolleg*innen weiter genau zuhören, um mit ihnen gemeinsam bestmöglich flexible Arbeitsmodelle zu gestalten. Wir sind auch ein wenig stolz darauf, dass wir bisher für jede/n eine passende und sinnvolle Lösung gefunden haben, auch bei unvorhergesehenen Ereignissen. Nicht planbar sind beispielsweise Erkrankungen, die einen längeren Krankenhausaufenthalt und anschließend eine Wiedereingliederung nötig machen. Hier versuchen wir – auch über die gesetzlichen Vorgaben hinaus –, die Arbeitsbedingungen (Ort, Wochen- und tägliche Arbeitszeit) gemeinsam so zu gestalten, dass gesundes Arbeiten, so gut es geht, möglich ist.
Sarah Biendarra: Durch Remote Work und vor allem durch Work from Anywhere gewinnen wir neue Mitarbeitende, die sich vielleicht nicht zu einem Umzug nach Bielefeld entschieden hätten, weil ihr Lebensmittelpunkt mit Familie und Freunden woanders liegt. Mittlerweile setzt sich allgemein immer mehr die Ansicht durch, dass die Employee Journey auch eine Lebensphasenreise ist. Unternehmen tun gut daran, hierfür flexible Konzepte bei den Arbeitsmodellen anzubieten. Das gilt auch für das Benefit-Portfolio, das immer wieder auf den Prüfstand zu stellen ist.
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